15. Dezember 2017 | 14:23 Uhr
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Wie „Overtourism“ zum Thema des Jahres wurde

Ende Juli machten sie ernst. Angehörige der linksgerichteten autonomen Gruppierung Arran, einer Jugendorganisation der pro-katalanischen Partei CUP, stoppten in der Nähe von Barcelonas Fußballarena Camp Nou einen vollbesetzten Touristenbus und sprühten auf seine Frontscheibe in katalanischer Sprache "Tourismus tötet die Stadtteile". Außerdem zerstachen sie einen Reifen. Wenige Tage später traktieren Mitglieder derselben Gruppe mit Messern die Reifen von Mietfahrrädern, mit denen vor allem Touristen gerne durch die katalanische Metropole radeln. Menschen kamen dabei nicht zu Schaden. Aber die Aktionen, die noch vor dem Terroranschlag Mitte August und der aktuellen Ausweitung des katalanisch-spanischen Konfliktes stattfanden, zeigen, dass der Unmut gegenüber einer gefühlten Überflutung von Städten und Regionen durch zu viele Touristen das Zeug hat, ganz schnell zu eskalieren.

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Wachsende Spannungen. Barcelona, mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern und acht Millionen Touristen pro Jahr, ist längst nicht das einzige Beispiel für wachsende Aversion gegenüber Touristen. Auch in Palma de Mallorca gab es im Sommer Protestaktionen unter dem Motto: "Stadt für die Bewohner, nicht für die Besucher". In Venedig, wo auf etwa 55.000 Einwohner rund 17 Millionen Besucher pro Jahr kommen, tobt der Kampf schon länger. In der winzigen Altstadt von Dubrovnik drängen sich bis zu 12.000 Kreuzfahrturlauber gleichzeitig. Hinzu kommen zahlreiche, meist jüngere Filmfans, seit die Stadt Kulisse für die Kultserie "Game of Thrones“ dient. Berliner sind genervt über Massen jungen Partyvolks in In-Bezirken wie Mitte und Kreuzberg. Island ächzt unter dem Besucheransturm der letzten Jahre. In Perus berühmter Ruinenstadt Machu Picchu wurde in diesem Jahr Schichtbetrieb eingeführt, um den Massen Herr zu werden. Und auch in der Musikmetropole New Orleans, die den Tourismus nach Hurrikan „Katrina“ eigentlich als bestes Mittel zur wirtschaftlichen Erholung ansah, formiert sich mittlerweile Widerstand gegen lärmende Massen.

Politische Konsequenzen. Die Liste ließe sich fortsetzen. „Overtourism“, wie es mittlerweile im Fachjargon heißt, bestimmt die Schlagzeilen vieler Medien, nicht nur in Deutschland. Mit dem Stimmungsbild, das sich zunehmend gegen Touristen richtet, verändert sich mancherorts auch die politische Agenda. Etwa in Barcelona. Nachdem die touristischen Erfolge der Stadt jahrelang lauthals gefeiert wurden, regiert seit Mitte 2015 mit Ada Colau eine Aktivistin einer basisdemokratischen Bürgerplattform die Stadt, die ihren Wahlkampf unter anderem mit dem Slogan „Wir wollen nicht wie Venedig werden“ führte. Sie schränkte die Vergabe von Lizenzen für neue Hotels massiv ein und versucht zudem, die Vermietung privater Wohnungen an Urlauber, zum Beispiel über Airbnb, in die Schranken zu weisen.

Reizthema Airbnb. Airbnb gilt vielen Overtourism-Kritikern als ein Hauptgrund für die schlechte Stimmung gegenüber Touristen, vor allem in Metropolen. Groß geworden aus dem Wunsch vieler, vor allem jüngerer Besucher, beim Städtetrip nicht in anonymen Hotels zu wohnen, sondern als Untermieter tiefer in die Stadt und ihre Szene einzutauchen und bei der Gelegenheit auch den Geldbeutel zu schonen, ist Airbnb mit weltweit rund vier Millionen Übernachtungsangeboten ein echter Big Player geworden. Und zugleich zum Problem. Ein Beispiel dafür ist Berlin. Laut Airbnb vermieteten 2016 22.400 Berliner an 600.000 Gäste für durchschnittlich 4,5 Nächte ganze Wohnungen oder Teile davon. Das ist nicht nur der Hotellerie ein Dorn in Auge, sondern auch von ständig wechselnden, feiernden Nachbarn geplagten Bewohnern der Berliner Szene-Kieze. Zudem verknappe die lukrative Vermietungsoption über das Portal den Wohnraum, der den Berlinern zur Verfügung stehe, lautet ein weit verbreiteter Vorwurf. Der rot-rot-grüne Senat will deshalb nach dem 2014 eingeführten Zweckentfremdungsverbot inklusive Genehmigungspflicht für die Ferienvermietung die maximale legale Vermietungsdauer für komplette Wohnungen auf 60 Tage im Jahr begrenzen.

Kreuzfahrten als Beschleuniger. Ein weiterer Faktor ist das massive weltweite Wachstum des Kreuzfahrttourismus. Immer mehr und immer größere Schiffe verteilen sich auf eine keineswegs im gleichen Maße wachsende Zahl von Häfen. Während manche Destinationen, wie etwa die Emirate oder einige karibische Inseln, unverändert um mehr und mehr Kreuzfahrtgäste buhlen, haben andere die Nase voll. Als zusätzliche Booster für den Touristenansturm, der den sozialen Frieden in manchen Destinationen bedroht, wirken niedrige Flugpreise und virale Effekte durch Social Media. Erstere sind eine Folge des Low-Cost-Booms, letztere führen dazu, dass sich die Kunde, wo der "place to be“ gerade ist, immer rasanter verbreitet. Zwar werden die Wünsche von Touristen, zumal der jüngeren Generation, nach Erkenntnissen der Marktforscher immer individueller, doch ironischerweise reisen auch im Zeitalter der Massenindividualität alle dahin, wo alle hinreisen.

Branche sieht Gefahrenpotenzial. Die Vielfalt der Probleme und Proteste führt dazu, dass sich längst nicht mehr nur Polit-Aktivisten damit beschäftigen, sondern auch Regierungen und, ja, die Tourismusbranche selbst. "Lenkung tut not“, sagt etwa Peter-Mario Kubsch, Chef des Studienreiseveranstalters Studiosus. Kein Wunder – schließlich zählen seine Gäste vielleicht nicht zu den Hauptverursachern von "Overtourism“, aber sie bekommen seine Folgen zu spüren, wenn sie überfüllte Attraktionen, Wanderrouten oder Radwanderwege erleben. Und selbst ein hochrangiger Manager eines erklärten Massenveranstalters räumt freimütig ein, dass ihn beim Besuch der Zone um den berüchtigten "Ballermann“ auf Mallorca, das nackte Grauen erfasst habe. Wenn es zu viel, zu laut, zu rüpelig wird, so die einmütige Erkenntnis, wird das auf längere Sicht viele Gäste abschrecken.

Christian Schmicke

Den kompletten Beitrag lesen Sie in der aktuellen Printausgabe des Reise vor9 Magazins

 

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