Wie Tourismus vom Problem zur Lösung werden kann
Die Touristiker Günter Ihlau (li.) und Wolfgang Isenberg sehen in den wachsenden Protesten gegen Overtourism einen Weckruf für die Branche. In einem aktuellen Thesenpapier plädieren sie für einen bewussteren Umgang mit Reisen und fordern, Tourismus wieder stärker als Mittel zur Völkerverständigung zu begreifen – und nicht als bloßen Konsum. Verständigung müsse aktiv gestaltet und strukturell ermöglicht werden.

privat
Günter Ihlau (li.) und Wolfgang Isenberg mischen sich weiter in die tourismuspolitische Debatte ein
Center Parcs mit mehr Service und Provision für Reisebüros
Center Parcs hat den Service und die Vergütung für den stationären Vertrieb gezielt ausgebaut: Reisebüros können das komplette Angebot ab sofort über alle gängigen Buchungssysteme wie TOMA, Bistro, myJACK und paxlounge einsehen und buchen. Zudem lockt eine fixe Provision von 12 Prozent. Reise vor9
Angesichts wachsender Proteste gegen Massentourismus fordern Ihlau, langjähriger Direktor für internationale Beziehungen bei TUI, und Isenberg, früherer Direktor der Thomas Morus Akademie, einen grundlegenden Perspektivwechsel. Tourismus dürfe nicht länger auf Effizienz und Wachstum reduziert werden, sondern müsse sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung stellen. In ihrem aktuellen Thesenpapier plädieren sie dafür, die klassische Idee der Völkerverständigung zeitgemäß weiterzuentwickeln.
Die Vision vom Tourismus als Motor für Toleranz und Dialog sei zwar nicht neu, doch in der heutigen Praxis vielfach ausgehöhlt, schreiben die Autoren. Begegnungen zwischen Reisenden und Einheimischen blieben oft oberflächlich, geprägt von standardisierten Abläufen und kommerziellen Interessen. "Verständigung entsteht nicht automatisch", heißt es im Papier. Sie brauche konkrete Rahmenbedingungen, Zeit, Offenheit – und den Willen aller Beteiligten.
Proteste als Prüfstein
Überfüllte Städte, steigende Lebenshaltungskosten, Umweltprobleme – vielerorts regt sich Widerstand gegen die Auswirkungen des Tourismus. Für Ihlau und Isenberg ist das kein Widerspruch zur Idee der Völkerverständigung, sondern deren Realitätscheck. Wird Tourismus vor Ort als Belastung erlebt, verliere er seine Legitimation als kulturelle Brücke, erklären sie. Der Umgang mit lokalen Konflikten sei damit ein Prüfstein für die dialogische Reife des Sektors.
Tourismus als Resonanzraum
Reisen seien keine private Nebensache, sondern ein Spiegel internationaler Politik, schreiben die Autoren. Visaordnungen, Sicherheitslagen und außenpolitische Spannungen beeinflussten das Reiseverhalten ebenso wie Preise und Angebote. Umso wichtiger sei es, den Tourismus als "Resonanzraum" zu verstehen – als Feld, in dem gesellschaftliche Prozesse sichtbar und gestaltbar werden.
Mit dem Begriff "Völkerverständigung 2.0" schlagen Ihlau und Isenberg ein erweitertes Verständnis vor: Begegnung solle nicht länger als Moment der Harmonie idealisiert, sondern als dynamischer Prozess begriffen werden. Im Zentrum stehe nicht Konsens, sondern Auseinandersetzung und Beziehung. In einer globalisierten Welt mit komplexen Identitäten bedürfe es neuer Formen der Begegnung – tragfähiger, realistischer, sensibler.
Verantwortung aller Akteure
Die Autoren betonen, dass Verständigung nicht nur Aufgabe der Destinationen oder Veranstalter sei. Auch Reisende selbst trügen Verantwortung für ihre Haltung und ihr Verhalten. Respekt, Achtsamkeit und Interesse seien zentrale Elemente einer verantwortungsvollen Reise. Wer kulturelle Unterschiede erleben wolle, müsse auch bereit sein, sich selbst infrage stellen zu lassen.
Reisen ermögliche neue Perspektiven – nicht nur auf andere Kulturen, sondern auch auf die eigene Rolle in der Welt. In dieser Offenheit liege das Potenzial des Tourismus als Lernraum gesellschaftlicher Verantwortung. "Wer nachhaltig reisen will, sollte auch nachhaltige Beziehungen suchen", heißt es im Papier.
Wirtschaftliche Bedeutung mit sozialem Auftrag
Der Tourismus sei auch wirtschaftlich bedeutend – aber seine Akzeptanz hänge zunehmend davon ab, ob er soziale und ökologische Aspekte mitdenke. Wenn Gewinne privatisiert und Lasten verallgemeinert würden, wachse die Ablehnung. Nur wenn wirtschaftlicher Erfolg gesellschaftlich eingebettet sei, könne Tourismus einen echten Beitrag zur Verständigung leisten.
Am Ende stehen nach der Vorstellung von Ihlau und Isenberg keine fertigen Konzepte, sondern eine Einladung: Die Branche solle neue Wege suchen, um den kulturellen Wert des Reisens zu stärken. Tourismus könne dann als Verstärker für Offenheit und Dialog wirken – nicht durch Vorschriften, sondern durch Haltungen, Erzählungen und Beispiele. Die Autoren fordern dazu auf, Tourismus nicht als Problemverursacher zu sehen, sondern als Teil der Lösung.
Christian Schmicke
Das vollständige Thesenpapier "Völkerverständigung durch Tourismus. Die wachsenden Tourismusproteste als Prüfstein" von Günter Ihlau und Wolfgang Isenberg ist online abrufbar unter: isenberg.eu/tourismus2025.pdf
Reise vor9 hat mit Ihlau und Isenberg im Dezember 2024 im Podcast gesprochen. Den Talk hören Sie hier:
Sie haben der Darstellung dieses Inhalts nicht zugestimmt. Mit Ihrer Erlaubnis wird der Inhalt angezeigt. Dann werden bestimmte Daten an eine dritte Partei übermittelt.
Sollte der Webplayer auf dieser Seite nicht funktionieren, klicken Sie einfach auf diesen Link: https://reisevor9.podigee.io/417-mittwoch-18dezember-2024